... der Mitschnitt des Berner Konzerts vom 04.11.1969 genügt höchsten
Anforderungen an ein lebendiges Dokument in der Synthese von Spannung
und Selbstentzündung bei höchster gestalterischer Wachsamkeit...
Vielen älteren Klaviermusikfreunden dürfte die umfangreiche
MDG-Archive-Edition mit Einspielungen des Stuttgarter Pianisten Werner
Haas eine Genugtuung sein. Zählte der Gieseking-Schüler doch
in den sechziger und siebziger Jahren zusammen mit dem damals noch hochvirtuosen
Ludwig Hoffmann zur kleinen Elite deutscher Nachkriegspianisten, die
sich nicht hinter den anerkannten Klassikern und Romantikern verschanzten,
sondern mit gutem Gewissen auch Tschaikowsky, Rachmaninow, Prokofjew,
Debussy, Ravel und Liszt in ihren Programmen führten.
Vielleicht mangelte es dem früh begabten Werner Haas an gesellschaftlichem
Durchsetzungsvermögen, an jenem Schuss von Glamour, der so manchen
Kollegen aus dem Ausland umwehte. Vielleicht befanden sich - im Schatten
der Altvorderen Elly Nelly, Wilhelm Kempff, Hans Richter-Haaser und
Wilhelm Backhaus - die deutschen Nachwuchsvirtuosen allzu sehr in der
Defensive des künstlerischen Wiederaufbaus. Fest steht, dass Haas
im Auftrag der französischen Philips eine Fülle von erstrangigen
Aufnahmen vorlegte, darunter Quasi-Gesamteinspielungen
der Klavierwerke von Debussy und Ravel, Klavierkonzerte von Tschaikowsky
und Rachmaninow, eine beträchtliche Anzahl von Chopin-Kompositionen
und eine phänomenale Toccaten-Sammlung mit selten zu hörenden
Autoren wie Kerll, Alkan, Czerny oder Saint-Saens.
Die hier zusammengetragenen Dokumente ergeben ein zuverlässiges
Bild von der ästhetischen und expressiven Bandbreite eines Interpreten,
der sich in seinem Wollen und Können nie treiben liess. Selbst
wenn es in der einen oder anderen Situation einmal eng wird - Haas gelingt
es immer, die Werkstrukturen gegenwärtig zu halten. Diese Begabung
noch in den extremen Momenten einer Chopin-Etude oder in den Engstellen
eines schnellen Beethovens-Satzes (aus op.109) ist vor allem in den
live vermittelten Programmteilen eines Konzerts zu bewundern, das Haas
am 4.November 1969 in Bern gegeben hat. Der Mitschnitt stammt aus dem
Berner Tonstudio von Schweizer Radio DRS. Er genügt höchsten
Anforderungen an ein lebendiges Dokument in der Synthese von Spannung
und Selbstentzündung bei höchster gestalterischer Wachsamkeit.
Haas spielte damals die genannte Beethoven-Sonate, Ravels Sonatine,
Debussys <<Estampes>>, kleinere Stücke von Chopin und
am Ende Liszts <<Gnomenreigen>>.
Die übrigen Aufnahmen stammen aus den Archiven des SWR Stuttgart.
Sie bestätigen Haas als markanten, dabei keineswegs rabiaten Prokofjew-Stilisten,
als kühlen Schumann-Erzähler und generell als ein Temperament
mit starkem Interesse für russische Klaviermusik auch jenseits
ausgetretener Pfade (Kabalewsky, Strawinsky).
......................................................................................................................................Peter
Cossé
Hommage à Werner Haas - Johann Sebastian Bach: Italienisches
Konzert; Ludwig von Beethoven: Sonaten C-Dur op. 2, 3, F-Dur op. 10,
2, G-Dur op. 14, 2, d-Moll op. 31, 2 Es-Dur op. 31, 3 und E-Dur op.
109; Frederic Chopin: Scherzi h-Moll op. 20, b-Moll op 31 und cis-Moll
op. 39, Ballade As-Dur op. 47 u.a.; Claude Debussy: Estampes; Dimitri
Kabalewsky: Sonate Nr. 3 op. 46; Franz Liszt: Gnomenreigen; Sergei Prokofjew:
Sonaten Nr. 2 op. 14 und Nr. 4 op. 29; Maurice Ravel: Sonatine; Robert
Schumann: Fantasiestücke op. 12, Kinderszenen op. 15, Carnaval
op. 9, Sinfonische Etüden op. 13; Alexander Skrjabin: 6 Préludes
op. 13 u.a.: Igor Strawinsky: Sonate (1924). MDG 642 1086-2 (6CD)